Am 9. Dezember 2019 veröffentlichten wir einen Offenen Brief an die Stadt Leipzig und weitere Behörden, der mittlerweile von 36 zivilgesellschaftlichen Initiativen, Vereine und Organisationen, sowie 3 Landtagsabgeordnete des sächsischen Landtages unterschrieben wurde. Bis heute haben wir keine Antwort erhalten.
Wir möchten an dieser Stelle einen Brief an den Oberbürgermeister Jung veröffentlichen, den er bereits im Juli 2019 erhalten hat, auch hier gibt es bis heute keine Antwort oder Reaktion:
Erfurt, den 9. Juli 2019
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Jung,
aus der Presse erfuhr ich, dass sich auf dem Gelände der ehemaligen HASAG- Werke Leipzig seit mehr als zehn Jahren rechte Hooligans treffen und in einer Lagerhalle ein Kampfsportstudio eingerichtet haben.
Die Stadt Leipzig hat dagegen offensichtlich bis heute nichts Wirksames unternommen, obwohl es seit einiger Zeit auch Bürgerproteste gibt.
Über diese Untätigkeit, vor allem aber über den geschichtsvergessenen und verächtlichen Umgang mit dem Leid der mehr als 5000 Frauen und Mädchen aus 27 europäischen und außereuropäischen Ländern, die hier unter menschenverachtenden Bedingungen eingesperrt waren und zur Sklavenarbeit in der Rüstungsproduktion gezwungen wurden, bin ich äußerst empört.
Ich fordere Sie, auch im Namen der Lagerarbeitsgemeinschaft Buchenwald-Dora e.V. auf, schnellstmöglich Maßnahmen zu treffen, um das gesamte ehemalige Produktions- und
Lagergelände der HASAG unter Schutz zu stellen.
Bei der HASAG Leipzig handelte es sich um das größte der 27 Frauenaußenlager, die vom Konzentrationslager Buchenwald vom Sommer 1944 an verwaltet wurden.
Wie die Männeraußenlager wurden sie an Standorten der deutschen Kriegsindustrie eingerichtet, wo die Häftlinge Zwangsarbeit leisten mussten.
Diese Außenlager waren ebensolche Konzentrationslager wie Buchenwald, mit Stacheldraht umzäunt und von SS-Wachposten gesichert. In ihnen galt das gleiche Terrorregime und Strafsystem wie in Buchenwald.
Eine Besonderheit der Frauenaußenlager war, dass es den SS-Wachmannschaften verboten war, sich den Frauen zu nähern und das Lagerinnere zu betreten. Die Gefangenen wurden im Lagerbereich, auf dem Arbeitsweg und bei der Arbeit durch Aufseherinnen beaufsichtigt.
Einen generellen Unterschied in der Gewaltbereitschaft des weiblichen und männlichen Bewachungspersonals gab es nicht.
Als Mitarbeiterin der Gedenkstätte Buchenwald lernte ich in den 1990er Jahren mehrere Überlebende kennen, die in den Frauenaußenlagern der Hugo-Schneiderr AG ( HASAG), Altenburg, Meuselwitz, Schlieben und Taucha gewesen waren.
Stellvertretend für andere möchte das Schicksal einiger Frauen skizzieren:
Die Polin Danuta Brzosko- Medryk, war als Abiturientin 1940 wegen »illegalen Schulbesuchs« verhaftet und im Warschauer Gefängnis »Pawiak« inhaftiert worden. 1943 wurde sie als Mitglied der »Armia Krajowa« (Polnische Heimatarmee ) per »Schutzhaftbefehl« in das Konzentrationslager Majdanek gebracht, anschließend in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück und von dort ins Frauenaußenlager HASAG-Leipzig.
Zuerst musste sie trotz schlechten Gesundheitszustandes in der Produktion von Panzerfäusten arbeiten, dann wurde sie, da sie Deutsch sprach, im Lagerschutz eingesetzt. Der Lagerschutz war das heimliche Zentrum des polnischen Widerstandes in Leipzig.
Während des Todesmarsches im April 1945 konnte sie zusammen mit mehreren Kameradinnen fliehen und überleben. Sie wurde Ärztin und erhielt für ihre unermüdliche Aktivität als Zeitzeugin und ihr Auftreten im Majdaneker Kriegsverbrecherprozess 1989 den Aachener Friedenspreis.
Die Französin Suzanne Orts, geb. Pic, war bei ihrer Verhaftung 17 Jahre alt. Zusammen mit der gesamten Familie wurde sie als Mitglied eines gaullistischen Netzwerkes der Resistance denunziert, verhaftet und in die französische Festung Perpignan eingeliefert. Anschließend folgte die Deportation nach Deutschland, zuerst in das KZ Ravensbrück und anschließend in das Buchenwalder Frauenaußenlager HASAG-Leipzig. In den letzten beiden Lagern war sie zusammen mit ihrer Mutter inhaftiert. Beide mussten in der Granatenproduktion Zwangsarbeit leisten.
Während einer der zwölfstündigen Nachtschichten geriet sie vor Müdigkeit mit den Haaren in eine rotierende Maschine, die ihr große Stücke der Kopfhaut abriss. Ein Arbeiter rettete sie vor dem Verbluten und brachte sie ins Krankenhaus. Dass sie überlebte, war ein Wunder.
Infolge der Lagerhaft litt Suzanne Pic nach der Befreiung an Tuberkulose und konnte, weder die begonnene Schulausbildung abschließen noch einen Beruf erlernen.
Sie musste – noch als junge Frau – invalidisiert werden.
Die polnische Jüdin Felicja Karay, geb. Fela Schächter, 1927 in Krakau geboren, trat schon als Schülerin in die linkszionistische Organisation »Hashomer Hazair« ein.
Nach dem Überfall der Deutschen auf Polen floh sie aus Krakau, um der Einlieferung ins Konzentrationslager zu entgehen. Sie fand jedoch keinen Schutz und wurde 1943
zusammen mit zwei älteren Schwestern in das Lager Plaszow gebracht.
Danach kam sie in das von der Hugo-Schneider AG betriebene Arbeitslager Skarzysko-Kamienna (Polen) und nach dessen Auflösung im Juli 1944 nach Leipzig.
Als Jüdin gehörte sie zur untersten Häftlingsgruppe im Lager. Trotzdem organisierte sie zusammen mit Kameradinnen heimlich kleine Kulturveranstaltungen, in denen von den
Kameradinnen und ihr selbst geschriebene Gedichte vorgetragen wurden.
Nach ihrer Befreiung ging sie nach Israel und begann mit Recherchen zum jüdischen Arbeitslager Skarzsysko-Kamienna. Ihre Doktorarbeit erschien 1987 unter dem Titel »Daeth comes in yellow. Skarzsysko-Kamienna Slave Labor Camp«. Sie wurde später ins Englische und Deutsche übersetzt.
Unabhängig voneinander berichteten alle drei Frauen von einem entsetzlichen Ereignis im Sommer 1944:
Nach der Ankunft des Transportes aus Skarzsysko-Kamienna am 4. August 1944 wurde der größte Vernichtungstransport aller Buchenwalder Frauenaußenlager mit Kindern in Leipzig zusammengestellt.
Bei der Liquidierung des Lagers Skarzsysko – Kamienna waren 24 Mädchen und Jungen im Alter von 4 bis 17 Jahren mit ihren Müttern »auf Transport« geschickt worden. Alle befanden sich in einem äußerst schlechten physischen und psychischen Zustand. Wenige Tage nach ihrer Ankunft in Leipzig wurden sie einer Selektion unterzogen. Zusammen mit den Müttern wurden alle Kinder am 28. August 1944 nach Auschwitz ins Gas geschickt. Unter den Opfern befanden sich auch die 34 – jährige Mutter des »Buchenwaldkindes« Stefan Jerzy Zweig, Helena sowie dessen 13 – jährige Schwester Sylvia.
Am 1. September 2001 wurde in der KZ-Gedenkstätte Buchenwald eine Ausstellung unter dem Titel »Vergessene Frauen von Buchenwald. Die Ausbeutung weiblicher KZ-Häftlinge in der Rüstungsindustrie« eröffnet.
Erstmals dokumentierte sie am Beispiel von 24 Biografien der über 27 000 Frauen und Mädchen das Leben, die gnadenlose Ausbeutung, aber auch ihren Überlebenswillen in den 27 Frauenaußenlagern des KZ Buchenwald.
Über 20 Zeitzeuginnen waren anwesend und berichteten anschließend in einem öffentlichen Forum über ihre Deportation und die verschiedenen Lager.
Am nächsten Tag besuchten sie Leipzig – Schönefeld, um die Reste des ehemaligen HASAG-Lagers zu besichtigten. In Anwesenheit von Vertretern der Stadt legten sie einen Kranz für ihre Kameradinnen nieder.
Im anschließenden Gespräch baten sie die Politiker, alles zu tun, damit sich das Schreckliche, das sie in Leipzig und anderswo erlebt hatten, nicht wiederholen kann.
Die Bitte der Frauen gebe ich an Sie, Herr Oberbürgermeister Jung, weiter.
Von der Gedenkstätte für Zwangsarbeit Leipzig auf dem historischen Gelände des Stammwerkes der HASAG-Leipzig wird hervorragende Arbeit zur Bewahrung des Vermächtnisses der Frauen, zum Gedenken und zur Mahnung geleistet.
Die parallele Existenz eines unter rechtsextremistischem Verdacht stehenden Kampfsportstudios stellt eine Absurdität dar, die korrigiert werden muss.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Irmgard Seidel
Stellvertretende Vorsitzende der Lagerarbeitsgemeinschaft Buchenwald-Dora e. V.