Zur Geschichte der Kamenzer Straße 10/12

Rede von geschichtspolitischen Akteur_innen auf der Kundgebung des Ladenschlussbündnisses gegen den Nazi-Trainingsort im ehemaligen KZ-Außenlager in der Kamenzer Straße 10/12 unter dem Motto »Erinnern. Kämpfen.«.

Liebe Anwesende, liebe Antifaschist_innen,

Wir – das ist ein Zusammenschluss geschichtspolitischer Akteur_innen aus Leipzig – freuen uns sehr, dass so viele dem Aufruf des Ladenschlussbündnisses zur heutigen Kundgebung an diesem Ort gefolgt sind. Es ist anzunehmen, dass die meisten von Euch oder Ihnen vorher noch nie an diesem Ort waren. Warum auch? Liegt er doch mitten im Industriegebiet, fernab des Wohn- und Lebensmittelpunktes der meisten.
Ein wichtiger Grund ist sicherlich auch, dass viele Leipziger_innen nicht wissen, dass sich genau hier bis April 1945 das größte Frauenaußenlager des KZ Buchenwald befand. Und auch viele derjenigen, denen die Geschichte des Ortes bekannt ist, meiden diesen meist aufgrund der hier in den letzten Jahren zunehmenden Präsenz und Nutzung durch neonazistische Akteure und Gruppierungen.
Seit einigen Jahren beschäftigen wir uns bereits mit diesem Ort, den hier während des Nationalsozialismus begangenen Verbrechen. Im Folgenden wollen wir einen kurzen Einblick in die Geschichte des Ortes geben:
Auf dem Gelände in der heutigen Kamenzerstraße, auf dem sich die Gebäude mit den Hausnummern 10 und 12 befinden, befand sich zwischen Juni 1944 und April 1945 das größte Frauenaußenlager des KZ Buchenwald, das Außenlager „HASAG Leipzig“. In diesem Lager waren über 5.000 Frauen und Mädchen eingesperrt. Der Großteil der Häftlinge waren Polinnen, unter ihnen eine große Gruppe Frauen und Mädchen, die aufgrund ihrer jüdischen Herkunft von den Nazis verfolgt wurden, aber auch viele sog. „politische Häftlinge“.

Das mit elektrischem Stacheldraht umzäunte Gelände wurde von der SS bewacht. Untergebracht waren einige der Häftlinge in Baracken, die meisten der Frauen und Mädchen aber wurden in einem ehemaligen zweistöckigen Fabrikgebäude auf engstem Raum zusammengepfercht. Das Gebäude war mit Trennwänden in insgesamt 23 sog. Blöcke unterteilt, in jedem dieser Blöcke waren mehrere hunderte Häftlinge auf mehrstöckigen Hiolzpritschen untergebracht. Dieses Gebäude steht heute noch, es handelt sich um das Gebäude mit der Hausnummer 12 und befindet sich gleich links neben dem Plattenbau, vor dem wir gerade stehen.

Die Häftlinge dieses KZ-Außenlagers mussten schwerste Zwangsarbeit für den Leipziger Rüstungsbetrieb Hugo-Schneider Aktiengesellschaft, kurz HASAG, leisten, dessen großes Fabrikgelände südlich an das Lager grenzte. Die Frauen und Mädchen mussten jeden Tag in 12-stündigen Tag- und Nachschichten unter schwersten körperlichen und gesundheitsgefährenden Bedingungen ohne jeglichen Arbeitsschutz Granaten, Munition und Panzerfäuste für die HASAG herstellen. Sie litten an Hunger, Krankheiten und Erschöpfung und waren bei der Arbeit und im Lager der permanenten Willkür und Gewalt des SS-Personals und der deutschen Angestellten ausgesetzt. Schläge, stundenlanges Appellstehen und Bunkerhaft gehörten zum Alltag der Häftlinge. Alte, zu junge, kranke, schwangere und alle anderen von der SS als „nicht mehr arbeitsfähig“ betrachteten Häftlinge wurden selektiert, nach Auschwitz und in andere Vernichtungslager deportiert und ermordert.

Das Außenlager „HASAG Leipzig“ war ein Arbeitslager. Seit 1942 hatte sich kriegsbedingt der Mangel an Arbeitskräften in der deutschen Rüstungsindustrie verschärft. Die NS-Führung beschloss, neben Kriegsgefangenen und aus den besetzten Ländern verschleppten Zivilist_innen ab 1942 auch KZ-Häftlinge an Rüstungsbetriebe zu vermieten. Die Nazis wollten den Häftlingen vor ihrer Ermordung noch die allerletzte Kraft aus den Körpern ziehen und daraus möglichst viel Profit schlagen. Infolgedessen entstanden im gesamten Deutschen Reich in Nähe von Rüstungsbetrieben wie hier sog. Außenlager der großen KZ. Damit rückte das „System“ Konzentrationslager und das Leid der Häftlinge an und in die deutschen Städte hinein. Ankommende und abgehende Transporte am Bhf. Schönefeld, streng von der SS bewachte Kolonnen mit Häftlingen auf der Torgauer Str. und die gemeinsame Arbeit in den Werkshallen der HASAG– dies alles gehörte für viele Schönefelder zum Alltag. Wenige Tage vor Einmarsch der Amerikaner in Leipzig räumte die SS MItte April 1945 das Lager und trieb die tausenden Häftlingsfrauen auf die sogenannten Todesmärsche quer durch Sachsen. Wie viele Häftlinge des LAgers die Todesmärsche überlebt haben, ist bis heute nicht geklärt. Einige Kurzbiografien von Überlebenden haben wir Euch auf einer Tafel, die ihr neben der Gedenktafel findet, zusammengestellt.

Wie vielerorts in Deutschland wurden auch in Leipzig die während des Nationalsozialismus begangenen Verbrechen und damit auch die Geschichte dieses Ortes in den vergangenen sieben Jahrzehnten weitgehend verschwiegen, verdrängt und aus dem kollektiven Gedächtnis gestrichen. Allein dem Engagement von Initiativen und Einzelpersonen ist es zu verdanken, dass an dieser Stelle seit 2009 eine Erinnerungstafel an das KZ-Außenlager und seine Häftlinge erinnert. Diese Tafel wurde in den vergangenen Jahren immer wieder, mittlerweile sechs mal, zerstört – zuletzt zum Jahreswechsel 2016/2017. Am 27.1.2017 wurde sie erneut errichtet.

In einer Zeit, in der der ein starker Rechtsruck durch alle Bereiche der Gesellschaft geht und eine menschenverachtende und geschichtsrevisionistische, den Holocaust leugnende Partei wie die AFD immer mehr Zustimmung erfährt, wollen wir dieses weitverbreitete Schweigen, Verdrängen und die geschichtlichen Ereignisse relativierende Äußerungen zu diesem Ort nicht länger hinnehmen. Dass heute Neonazis diesen historischen Ort relativ ungestört nutzen bzw. nutzen können, um u.a. Konzerte zu veranstalten oder Kampfsport zu betreiben, belegt besonders deutlich, wie vielerorts mit der Erinnung und dem Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus in Leipzig und Sachsen umgegangen wird – nämlich häufig gar nicht.

In den letzten Jahren kamen immer wieder Überlebende des KZ-Außenlagers oder ihre Angehörigen nach Leipzig, um den Ort, an dem sie oder ihre Familienmitglieder Leid und Gewalt erfuhren, aufzusuchen. Durch die in den letzten Jahren zunehmende Präsenz von Neonazis in und um die Gebäude herum, wurde in der jüngeren Vergangenheit davon abgesehen, sich – wenn überhaupt – länger als irgendwie nötig vor Ort aufzuhalten oder den Ort nur in größeren Gruppen aufzusuchen. 73 Jahre nach ihrer Befreiung müssen sich die Opfer und ihre Familien noch immer in Deutschland von Nazis bedroht fühlen. Ihre Geschichte, ihre Erfahrungen, ihr Leid, ihr Schicksal und damit ihre Würde werden mit Füßen getreten.

Das alles ist für uns nicht mehr hinnehmbar und muss endlich öffentlich gemacht werden. Wir fordern alle politischen Akteur_innen der Stadt Leipzig auf, sich mit der Geschichte dieses Ortes auseinanderzusetzen und sich in Bezug auf die aktuellen Ereignisse und Aktivitäten durch Neonazis hier vor Ort zu äußern und klar zu positionieren. Wir nehmen nicht länger hin, dass sich hier gewaltbereite, menschenverachtende neonazistische Gruppierungen ungestört treffen können!

Vielen Dank.